Boethius und Dionysius Areopagita: Wegbereiter des Mittelalters

Boethius und Dionysius Areopagita: Wegbereiter des Mittelalters
Boethius und Dionysius Areopagita: Wegbereiter des Mittelalters
 
Boethius stammte aus einer der angesehensten Familien Roms, deren Mitglieder auch schon in der klassischen Zeit immer wieder höchste politische Ämter bekleidet haben. Auch Boethius (* um 480) stieg unter dem Gotenkönig Theoderich zu großen Ehren auf, wurde sogar alleinregierender Konsul. Trotz des großen Vertrauens, das Theoderich in ihn gesetzt hatte, wurde Boethius in einen Intrigenverdacht hineingezogen und nach mehrmonatiger Haft in Pavia um 524 ohne Gerichtsurteil hingerichtet. Während dieser Zeit schrieb Boethius Weltliteratur. In nicht weniger als 400 Handschriften ist sein »Trost der Philosophie«, ein Dialog des Boethius mit der »Frau Philosophia«, im Mittelalter überliefert. Im Sturz von den höchsten Ehrenstellen in die Ohnmacht erfuhr er die tröstende Macht der Philosophie. Durch den. Christen Boethius wurde dem Mittelalter ein authentischer Begriff von Philosophie vermittelt, durch die das Dasein eines Menschen als Ganzes geprägt werden soll. Boethius behandelt in seinem »Trost« die grundlegenden Fragen einer philosophischen und theologischen Gotteslehre: die Frage der Vorherbestimmung des Menschen, der Vereinbarkeit des göttlichen Vorherwissens mit der Freiheit des Menschen. Boethius wirkte mit seinen theologischen Schriften wegweisend für die Durchführung eines Programms, das er selbst so formuliert hat: »Verbinde, so viel du vermagst, den (religiösen) Glauben mit der Vernunft!« Boethius hat dem Mittelalter zudem eine ganze Reihe klassisch gewordener Definitionen bereitgestellt, etwa: Ewigkeit ist »der ganze, gleichzeitige und vollkommene Besitz eines unbegrenzbaren Lebens«; Glück ist »der Zustand, der durch die Vereinigung aller Güter vollkommen ist«. Von besonderer Wichtigkeit wurde Boethius' Definition der Person als des »unteilbaren Wesensbestandes einer geistbegabten Wesenheit«.
 
Das 12. Jahrhundert, in dem Boethius eine besondere Berücksichtigung fand, hat man mit gewissem Recht das Zeitalter des Boethius (»Aetas boetiana«) genannt. Seine Bedeutung für das Mittelalter liegt aber auch darin, dass er - wie namhafte Vertreter des Neuplatonismus - versucht hat, das reiche, nicht ohne weiteres in Übereinstimmung zu bringende Werk der griechischen Antike als maßgebliche philosophische Instanz zu begründen.
 
Boethius machte es sich zur Lebensaufgabe, sämtliche Schriften Platons und des Aristoteles ins Lateinische zu übersetzen und zu kommentieren, um damit zugleich die Vereinbarkeit ihres Denkens unter Beweis zu stellen. Ein solch gigantisches Vorhaben musste angesichts seines frühen Todes Stückwerk bleiben. Viele Fachausdrücke der lateinisch schreibenden Philosophie und Theologie des Mittelalters sind durch Boethius geprägt worden. Im 14. Jahrhundert wurden unter Bezugnahme auf die Trostschrift des Boethius Bücher »Über den Trost der Theologie« geschrieben, und selbst Dante lässt in seiner »Göttlichen Komödie« Thomas von Aquino den Boethius rühmen.
 
Kurze Zeit nach dem Tod des Boethius tauchte im östlichen Mittelmeerraum ein rätselhaftes Schrifttum auf. Es schien von einem Athener Ratsherrn zu stammen, jenem Mann, den der Apostel Paulus nach seiner großen Missionsrede vor dem Areopag in Athen bekehren konnte, - ein Schrifttum, das von einem ungeheuren religiösen Impuls beseelt war. Man nannte diesen Autor »Dionysius Areopagita«. Heute findet man diesem Namen nicht selten ein »Pseudo-« vorangestellt, weil inzwischen erwiesen ist, dass der Autor erst im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts schrieb. Er war Vertreter einer radikalen Form »negativer Theologie«. Gott selbst ist für den Menschen unerkennbar, ungeachtet der ergangenen Offenbarung. Wir müssen daher in Negationen reden, wenn wir von Gott sprechen, etwa als »unendlich«, »unermesslich«, »unveränderlich«. Dionysius benutzt dabei durchgängig die Form der Steigerung: überseiendes Sein (weil Gott über alles bestimmbare Sein erhaben sei), Über-Geist. Dionysius hat auch die im Mittelalter klassisch gewordenen drei Phasen des Weges der menschlichen Seele zu Gott beschrieben: den Weg der Reinigung, der Erleuchtung und der Vereinigung. Daher wird Dionysius auch als der »Vater der abendländischen Mystik« bezeichnet. Gott ist für Dionysius einerseits der Unergründliche, der ein in jeder Hinsicht von den endlichen Dingen unterschiedenes Sein hat, andererseits kann - gerade deswegen - alle sinnliche Wirklichkeit zum Gleichnis, zum Symbol des transzendenten Gottes werden. Dionysius hat den für das Selbstverständnis des Mittelalters wesentlichen Begriff der »Hierarchie« geprägt.
 
Dionysius stellt in dem gerade durch Boethius geprägten Rationalismus des mittelalterlichen Denkens ein östliches Korrektiv dar. Das Pseudonym des Dionysius war freilich nicht die einzige Fehlidentität. Nachdem seine Schriften erst im 9. Jahrhundert durch eine Schenkung des byzantinischen Kaisers nach Paris und dann in das nahe Kloster nach Saint-Denis gelangt waren, ergab es sich auch noch, dass er mit dem Patron dieser Abteikirche, dem ersten Bischof von Paris und Märtyrer Dionysius, dem späteren Schutzpatron des französischen Königtums, verwechselt wurde. Der überaus schwierige Stil des »Areopagiten« war zugleich der Grund dafür, dass man sie mehrmals neu aus dem Griechischen übersetzte und eingehend kommentierte. Nicht wenige der großen Denker der mittelalterlichen Geistesgeschichte haben Kommentare zu jenen Schriften verfasst, woraus zugleich die Bedeutung des Dionysius für das mittelalterliche Denken ersichtlich ist. Kommentare schrieben etwa: Johannes Scotus Eriugena, Hugo von Sankt Viktor, Robert Grosseteste, Albertus Magnus, Thomas von Aquino.
 
Prof. Dr. Rolf Schönberger
 
 
Hage, Wolfgang: Das Christentum im frühen Mittelalter (476—1054). Vom Ende des weströmischen Reiches bis zum west-östlichen Schisma. Göttingen 1993.

Universal-Lexikon. 2012.

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